Etty Hillesum
Etty Hillesum (historischer Hintergrund)
von Prof. Klaas A. D. Smelik
Professor für Hebräisch und Judaismus, Direktor des Etty Hillesum Research Centers (Universität Gent/Belgien)
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Esther „Etty“ Hillesum wurde am 15. Januar 1914 in Middelburg in den Niederlanden geboren.
Ihr Vater Levie „Louis“ Hillesum (*25. Mai 1880 in Amsterdam) unterrichtete dort seit 1911 als Lehrer klassische Sprachen. Weggefährten beschreiben Ettys Vater als kleinen, ruhigen und unauffälligen Mann, als Stoiker und gelehrten Einsiedler, ausgestattet mit einer guten Portion Humor. Seine jüdische Identität war Louis Hillesum wichtig. Gleichzeitig war er aber in hohem Maße assimiliert – so arbeitete er zum Beispiel an Samstagen. Seine Frau Riva (*23. Juni 1881) kam ursprünglich aus Potechev/Russland. 1907 floh sie von dort aufgrund eines Pogroms nach Amsterdam, wo sie im Dezember 1912 Louis Hillesum heiratete. Etty beschrieb ihre Mutter als eine lebhafte, chaotische, extrovertierte und dominante Person. Das Verhältnis der beiden war schwierig. Riva Hillesum-Bernstein gebar noch zwei weitere Kinder: Jacob „Jaap“ (*27. Januar 1916 in Hilversum) und Michael „Mischa“ (*22. September 1920 in Winschoten). Jaap studierte Medizin. Er war geistreich, schrieb Gedichte, und viele Frauen fühlten sich zu ihm hingezogen. Sein Bruder Mischa offenbarte schon als Kind ein außergewöhnliches musisches Talent. Um 1939 wurde er wegen Schizophrenie behandelt. Auch nach seiner Entlassung blieb seine Psyche labil.
Etty verbrachte ihre Kindheit in Middelburg, Hilversum (1914-1916), Tiel (1916-1918), Winschoten (1918-1924) und schließlich Deventer. Anders als bei ihrem hochbegabten, jüngeren Bruder Jaap waren Ettys Schulnoten nicht überdurchschnittlich. Am Gymnasium in Deventer studierte sie auch Hebräisch; für einige Zeit nahm sie an Treffen einer zionistischen Jugendgruppe teil. Im Anschluss an ihre Schulzeit ging Etty nach Amsterdam, um Jura zu studieren. Dort bezog sie im März 1937 ein Zimmer im Haus des Witwers Hendrik „Hans“ J. Wegerif. Wegerif stellte Etty als Haushälterin an; beide hatten auch eine Affäre. In seinem Haus lebte Etty bis zu ihrem endgültigen Abschied ins Lager Westerbork im Juni 1943. Während ihrer Universitätszeit bewegte sich Etty in linksgerichteten, antifaschistischen Studentenkreisen, war politisch und sozial aktiv, ohne jedoch einer bestimmten politischen Partei anzugehören. Im Jahr 1939 legte sie an der Amsterdamer Universität ihr Juraexamen ab. Darüber hinaus studierte sie in Amsterdam und Leiden slawische Sprachen. Da ihr als Jüdin der Zugang zur Universität versperrt wurde, konnte sie dieses Studium jedoch nicht abschließen.
Ihre Tagebücher schrieb Etty zum größten Teil in Wegerifs Wohnung in der Gabriel Metsustraat 6, wo auch noch der Student Bernard Meylink lebte. Über ihn lernte Etty am 3. Februar 1941 den jüdischen Psychochirologen Julius Spier kennen. Spier wurde im Jahr 1887 in Frankfurt am Main geboren. 1927 beendete er seine Anstellung in einer Handelsfirma, um sich dem Studium der Chirologie (Handlesekunde) zu widmen. In Zürich durchlief er zunächst eine zweijährige Lehranalyse bei Carl Gustav Jung. Auf Jungs Empfehlung eröffnete er daraufhin im Jahr 1929 eine psychochirologische Praxis in Berlin, seit 1935 in der Aschaffenburgerstrasse. 1939 flüchtete Spier nach Amsterdam, eröffnete dort erneut eine Praxis und gab Vorlesungen. Die eher zufällige Begegnung mit Spier sollte sich als prägendes Ereignis in Ettys Leben herausstellen. Sie war sofort von seiner Persönlichkeit beeindruckt und entschied sich, bei ihm in Therapie zu gehen. Am 9. März begann Etty, wahrscheinlich auf Spiers Anraten, mit ihrem Tagebuch. In ihren Tagebüchern bezeichnet sie ihn als „S“. Für Etty ging die Bedeutung des Tagebuchsschreibens weit über die Therapie hinaus. Sie konnte darin ihre literarischen Ambitionen verwirklichen. Etty war nicht nur Spiers Patientin, sondern wurde auch seine Sekretärin und Freundin. Er hatte einen beträchtlichen Einfluss auf ihre spirituelle Entwicklung. Spier lehrte Etty, mit ihren depressiven und egozentrischen Veranlagungen umzugehen. Als er am 15. September 1942 an Lungenkrebs starb, war Etty innerlich so weit gereift, dass sie seinen Tod verarbeiten konnte.
Am 15. Juli 1942 begann Etty eine Anstellung als Schreibkraft im Amsterdamer Judenrat. Jedoch erledigte sie diese Arbeit nur mit Widerwillen, da sie der Rolle des Rates äußerst kritisch gegenüber stand. Nur zwei Wochen später ließ sie sich daher ins Zwischenlager Westerbork in die Abteilung „Sociale verzorging doortrekkenden“ (Soziale Versorgung Vorüberziehender) versetzen. Am 30. Juli 1942 begann sie dort ihre Tätigkeit als Sozialarbeiterin. Ettys erster Aufenthalt im Lager war nicht von langer Dauer; bereits am 14. August 1942 kehrte sie nach Amsterdam zurück. Irgendwann um den 21. August ging sie dann wieder nach Westerbork, jedoch zwang sie eine Krankheit zu einer erneuten Rückkehr nach Amsterdam am 5. Dezember 1942. Es dauerte sechs Monate, bis Etty ausreichend genesen war, um ihre Arbeit in Westerbork wieder aufzunehmen. Anders als man erwarten mag, lag es Etty sehr am Herzen, so schnell wie möglich ins Lager zurückzukommen. Sie wollte die internierten Menschen während der Vorbereitung auf ihre Deportation unterstützen. Außerdem entsprach es ihrem Wunsch, das Schicksal ihres Volkes zu teilen. Aus diesem Grund schlug sie wiederholt Angebote aus unterzutauchen.
Ettys Abschied aus Amsterdam am 6. Juni sollte sich als endgültig herausstellen. Sie wollte mit ihrem Vater, ihrer Mutter und ihrem Bruder Mischa zusammen sein, die zwischenzeitlich ins Lager Westerbork eingewiesen worden waren. Am 5. Juli 1943 erhielt Etty den offiziellen Status als Lagerinsassin. Ihr Bruder Mischa sollte aufgrund seiner musikalischen Begabung ursprünglich „gesperrt“ und von der Deportation verschont werden. Er bestand jedoch darauf, dass auch seine Familie diesen Sonderstatus erhält und ihn ins Sondercamp Barneveld begleiten kann. Als seine Mutter Hanns Albin Rauter, den ranghöchsten SS-Führer in den Niederlanden, um diese Privilegien schriftlich ersuchte, war dieser derart erbost, dass er sofort den Befehl zum Abtransport der gesamten Familie nach Auschwitz erteilte.
Die Deportation der Hillesums erfolgte am 7. September 1943. Einzig Jaap befand sich zu diesem Zeitpunkt noch in Amsterdam. Im späten September 1943 wurde er ins Lager Westerbork eingewiesen, im Februar 1944 dann nach Bergen-Belsen deportiert. Er starb gegen Kriegsende auf einem der „Todesmärsche“. Vater und Mutter Hillesum kamen entweder schon während des Transports nach Auschwitz ums Leben oder wurden direkt nach der Ankunft vergast. Als ihr Todestag ist der 10. September 1943 überliefert. Mischa starb am 31. März 1944, wahrscheinlich in Warschau. Ettys Tod in Auschwitz-Birkenau datiert das Roten Kreuz auf den 30. November 1943.
Vor ihrer letzten Abfahrt ins Lager Westerbork vertraute Etty ihre Tagebücher Maria Tuinzing an. Etty bat sie, ihr Werk an den Schriftsteller und Freund Klaas Smelik, meinen Vater, weiterzuleiten; er möge für die Veröffentlichung sorgen, sollte sie nicht aus Auschwitz zurückkehren. 1946 oder 1947 übergab Maria Tuinzing meinem Vater die Bücher sowie einen Stapel Briefe. Alle seine Bemühungen, die Schriften in den fünfziger Jahren zu veröffentlichen, blieben jedoch erfolglos. Schließlich überließ er sie mir. Ende des Jahres 1979 unternahm ich einen erneuten Versuch und kontaktierte den Verleger J. G. Gaarlandt. Er veröffentlichte 1981 Het verstoorde leven und im Jahr 1986 die Gesamtausgabe aller ihrer Tagebücher und Briefe auf Niederländisch. Diese Ausgabe ist inzwischen ins Englische und Französische übersetzt – eine italienische Version ist in Bearbeitung. Ins Deutsche ist nur ein Teil ihres Werkes übersetzt.
Weiterführende Informationen:
Webseiten:
Die Spinne und ihr Netz (2009-2019)
Illustrations-Serie von Roman KROKE
2009 illustrierte Roman Kroke die Tagebücher der holländischen Jüdin Etty Hillesum (1914-1943). Es handelte sich um eine Auftragsarbeit für den Dokumentarfilm Der Konvoi von André Bossuroy (2009), gefördert durch die Europäische Kommission und die Jewish Foundation of Belgium, ausgestrahlt u. a. auf ARTE (-> Dokumentarfilm). Die Serie Die Spinne und ihr Netz umfasst zehn Illustrationen zu ausgewählten Zitaten aus Hillesums Tagebuch. Die erste Auflage der deutschen und englischen Version wurde von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) finanziert (2012). Die Publikation ist nun erhältlich in einer deutschen, französischen und englischen Ausgabe (amazon.de, amazon.fr, amazon.com und amazon.co.uk).
Auf Grundlage seiner Illustrationen zu Etty Hillesum realisiert Roman Kroke Workshops in Kooperation mit Schulen, Universitäten, Museen, Stiftungen etc.
Prof. Klaas A. D. Smelik
Professor für Hebräisch und Judaismus, Direktor des Etty Hillesum Research Centers, Universität Ghent (Belgien)
„Als ich Roman Krokes Illustrationen zu den Tagebüchern Etty Hillesums zum ersten Mal sah, war ich zutiefst beeindruckt von ihrer emotionalen Wirkkraft. Gleichzeitig hat es Kroke verstanden, durch seine Themenauswahl und Anmerkungen die Kernaussagen Hillesums zu erfassen. Seine Arbeit ist einzigartig in der Form, wie sie Hillesums Gedanken wiederspiegelt. Eine Auseinandersetzung über das Medium der Illustration hatte es zuvor nie gegeben. Krokes künstlerische Interpretation von Hillesums Schriften zeichnet sich durch eine fundierte Recherche aus und wird daher auch der besonderen Verantwortung gerecht, die aufgrund des Themas geboten ist. In seinem Werk spiegelt sich eine besondere Sensibilität gegenüber der Geschichte der Shoah.
Für den Etty Hillesum Research Centre der Universität Gent bestellte ich daher eine komplette Edition von Krokes Illustrationen und übersetzte seine Anmerkungen ins Niederländische. Seitdem präsentieren wir seine Kunst an unserem Forschungsinstitut im Rahmen einer Dauerausstellung. Im November 2010 lud ich Kroke schließlich zu einer internationalen Hillesum-Konferenz nach Middelburg – Ettys Geburtsort – ein, wo er seine Arbeit einem breiten Publikum vorstellte. Sein Vortrag erfuhr bei den Konferenzteilnehmern höchste Wertschätzung, offenbarte seine Leidenschaft und sein Talent als Künstler sowie die Präzision seiner historischen Recherche. Die Zusammenfassung von Krokes Arbeit in der Publikation „Die Spinne und ihr Netz“ stellt einen bedeutenden Beitrag dar, Etty Hillesums Werk zukünftigen Generationen nahe zu bringen und das Gedenken an ihr spirituelles Vermächtnis lebendig zu halten. Gleichzeitig fördert Krokes Kunst auch ein Nachsinnen über die Frage, wie in unserer heutigen Gesellschaft an einer Kultur des Respekts, an einem friedlichen Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen kulturellen, religiösen, politischen oder ethnischen Hintergrunds gearbeitet werden kann.”